Tabu

Sei vernünftig, dachte er, nicht zum ersten Mal an diesem Tag und auch nicht zum ersten Mal überhaupt. Eigentlich dachte er es regelmäßig bei Tageslicht.
Doch wenn die Sonne der Nacht Platz gemacht hatte und die Tagesroutine erledigt war, wenn die Zeit für den Schlaf gekommen war, dann rieselt die Vernunft aus ihm wie aus einem zerlöcherten Eimer. Auch in dieser Nacht setzte er sich nieder und schrieb ihr einen Brief, angefüllt mit Liebe und Zuversicht, mit Liebkosungen und geheimsten Geständnissen.
Noch konnte die Vernunft siegen, er konnte den Brief zerreißen oder verbrennen. Doch stattdessen trug er ihn in der Dunkelheit, die ihn wie ein Mantel verbarg, heimlich zu ihr.
Am Morgen, wenn die Sonne die Nacht und die Zeit der geheimen Gefühle wieder verdrängt hatte, bereute er seinen nächtlichen Wahnsinn.
Er konnte und durfte diese Frau einfach nicht lieben. All seine Zukunft stand auf dem Spiel, würde jemals diese Verbindung bekannt. Niemand würde ihre Liebe verstehen oder gutheißen, die Welten die sie trennten waren unüberbrückbar und doch liebte er sie.
Ausgerechnet er, dem bis zu dem Moment als er ihre Augen erblickte all die Regeln und Gesetze das oberste Gebot gewesen war, liebte nun eine der „Anderen“.
Je gleißender die Sonne vom Himmel brannte, desto inbrünstiger schwor er sich selber in der kommenden Nacht ihre Antwort nicht zu lesen, nicht mal zu öffnen, nein nicht mal entgegen nehmen wollte er sie.
Aber als in dieser Nacht keine Antwort bis zum Morgengrauen gekommen war, war er vor Verzweiflung und Sorge um sie fast verrückt. Alle Versprechungen und Gelübde die er sich an dem sonnenheissen Tag zuvor gegeben hatte, lösten sich mit der Dämmerung auf.
Er liebte sie, er brauchte sie.
Er verließ das Haus drehte sich nicht mehr um, wohl wissend das er es wahrscheinlich nie wieder betreten würde.
Er liebte sie...

© Denise C. Barth Okt. 2015